
Im Gespräch mit STE-SA Lifestyle Magazin äussert sich Tübinger Oberbürgermeister prononciert zu verschiedenen aktuellen Themen. Herr Palmer, erlauben Sie mir zunächst eine persönliche Frage: Wir geht es Ihnen und Ihrer Familie in dieser aussergewöhnlichen Zeit?
Ich gehöre zu den Menschen, die an Corona keinen Schaden genommen haben. Ich hatte noch nie so wenig Termine, weil die meisten Veranstaltungen ausfallen und daher mehr Zeit für die Familie als je zuvor. Ich bin ausgerechnet in dieser Zeit zum dritten Mal Vater geworden. Also Glück um Unglück. Aber natürlich habe ich mir Sorgen um meine betagte Mutter gemacht.
Aussergewöhnliche Situationen im Leben wie zurzeit mit der COVID-19 verlangen auch nach aussergewöhnlichen Massnahmen. Wie managen Sie und Ihre Verwaltung in Tübingen diese Herausforderung?
Mittlerweile sind wir weitgehend zur neuen Normalität zurückgekehrt. Mit mehr Homeoffice, Abstand und Videokonferenzen. Wir waren die erste Stadt, die schon im Mai eine komplett digitale Gemeinderatssitzung durchgeführt hat. Wir nutzen die Krise als Chance und modernisieren uns. Anstrengend war der Lockdown. Da musste jeden Tag neu organisiert werden und vieles war unklar. Ich hoffe, das kommt nicht wieder.
Wie beurteilen Sie diesbezüglich die Situation in Deutschland und vor allem dann hier in unserem Bundesland Baden-Württemberg? Haben wir die Lage unter Kontrolle?
Das hatten wir. Aber es wird wieder brenzlig. Ich finde es sehr bedauerlich, dass wir die moderne Technik nicht zur Nachverfolgung der Kontakte nutzen und stattdessen Zettelwirtschaft betreiben. Nur 10% der positiv Getesteten haben eine Warnung über die App abgesetzt. Wenn wir das auf 60% steigern könnten, wäre die Pandemie dauerhaft unter Kontrolle. Deshalb bin ich für die Pflicht zur Nutzung der Corona-App.
Noch ein Wort zu Schulen, den Schülern und den Jungerwachsenen. Welche Auswirkungen hat aus Ihrer Sicht die Corona-Zeit und ihre Massnahmen auf sie?
Für die Lernbiografien und die Familien war das furchtbar. Und für den Schutz vor Corona gar nicht nötig. Jungen Leuten macht das Virus ja fast nichts aus. Es ging eigentlich um den Schutz der Risikogruppen. Das muss diesen Winter besser gemacht werden. Ich bin entschieden gegen Schul- und Kitaschließungen.
Tübingen, nicht nur als Universitätsstadt, ist weit hinaus über die Grenzen Deutschland bekannt. Sind Sie ein bisschen stolz darauf, schon seit Jahren Tübingen vorzustehen?
Mehr als das. Ich bin jeden Tag froh und glücklich, wenn ich ins Rathaus gehe. Tübingen war schon zu Lebzeiten von Walter Jens das Neckar-Athen, eine Polis. Und mittlerweile ist es auch das Neckar-Harvard, also eine Stadt weltweit beachteter Forschung.
Neben der Universität und der UNI-Kliniken beheimatet Tübingen auch eine der führenden Unternehmen in der medizinischen Forschung und Entwicklung, wenn es um den effizienten Impfstoff gegen das Corona-Virus geht – CureVac. Wie erklären Sie sich diesen Innovations- und Unternehmergeist Ihrer Stadt?
Daran haben wir hart gearbeitet. Tübingen war sich lange selbst genug. Erst Ende der 90er Jahre kam der Entschluss, aus Wissenschaft Wirtschaftskraft machen zu wollen. Wir haben den Technologiepark gegründet und die Gründer intensiv unterstützt. Alle Firmen, die jetzt Furore machen, sind dort groß geworden. Der Geist war schon lange in Tübingen, jetzt kommt auch das Geld.
Auch in übrigen Bereichen hat Tübingen gewisse Vorreiterrolle, so zum Beispiel, wenn es um Reduktion des CO-2 Ausstosses geht. Wie präsentiert sich derzeit Situation in diesem Bereich?
Wir haben in zehn Jahren eine Reduktion um 36% pro Kopf erreicht. Ein Spitzenwert in Deutschland. Aber viel zu langsam für das Klima und für Fridays for Future. Daher haben wir im letzten Jahr ein Programm entwickelt, das uns bis 2030 klimaneutral machen kann und soll. Die Entscheidung steht im Oktober im Gemeinderat an. Ich hoffe sehr, wir finden eine große Mehrheit.
Welche weiteren Massnahmen sind noch geplant?
Wir wollen zum Beispiel die Fernwärme auf erneuerbare Energie umstellen, vor allem Holzhackschnitzel und Solarthermie. Dann lohnt es sich wirklich, auch die Teile der Stadt anzuschließen, die bisher noch Einzelheizungen mit Öl oder Gas haben.
Nicht nur Corona beschäftigt uns sehr, immer deutlicher zeichnet sich auch eine Transformation zu einer nachhaltigen Mobilität auf Basis des Elektrobetriebs ab. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? In welche Richtung wird diese weiter gehen?
Im Moment läuft alles auf die Batterie zu. Aber das hat auch eine Kehrseite, nämlich Masse und Rohstoffbedarf. Ich hoffe, die Wasserstofftechnik kann sich doch noch durchsetzen, vor allem für größere Fahrzeuge. Elektrisch wird die Zukunft der Mobilität ziemlich sicher sein. Am besten übrigens auf zwei Rädern, dann spart man erst richtig viel Umweltschaden ein.
Sie sind bis zum Jahr 2022 als Oberbürgermeister Tübingens gewählt. Es verbleiben also weniger als zwei Jahre bis zu den kommenden Wahlen. Kann man in dieser noch kurzen Zeit Einiges bewegen? Und wenn ja, was haben Sie noch vor?
Ich fange ja nicht an, viele Projekte sind im Laufen und müssen weiter voran getrieben werden. Denken Sie nur an die geplanten Radbrücken und die Fahrradtiefgarage am Bahnhof. Das sind 25 Millionen Euro, die finanziert und verbaut werden müssen. Aber eins stimmt, ich fange jetzt langsam an, Projekte zu definieren, die erst nach der Wahl fertig werden können. Jetzt hoffe ich auf den Beschluss des Klimaschutzprogramms, dann legen wir damit richtig los.
Eine letzte Frage noch: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten. Was würden Sie sich wünschen?
Dass wir in unserem Land wieder lernen, sachlich miteinander zu streiten. Die Empörungsrituale finde ich immer schlimmer. Wir sollten mehr argumentieren und weniger abstrafen, mehr verstehen und weniger verurteilen. Das würde uns allen gut tun. (Foto: Manfred Grohe).
Zur Person
Boris Palmer, damals Abgeordneter der Grünen im Stuttgarter Landtag, wurde am 22. Oktober 2006 im ersten Wahlgang zum neuen Tübinger Oberbürgermeister gewählt. Bei einer Wahlbeteiligung von 51,6 Prozent erhielt er 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sein Amt trat er am 11. Januar 2007 an. Am 19. Oktober 2014 wurde Palmer bei einer Wahlbeteiligung von 55,0 Prozent mit 61,7 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt und am 12. Januar 2015 für seine zweite Amtszeit verpflichtet. Die Amtszeit beträgt acht Jahre. Die nächste Oberbürgermeisterwahl findet 2022 statt.